Das Alte Testament: Zeit der Vorbereitung der Menschheit auf das Kommen Christi im Schoße Marias
Das Alte Testament ist nicht lediglich eine Folge von Ankündigungen Christi, die entzifferbar werden nach der Frohen Botschaft. Es ist vor allem die Geschichte der Vorbereitung der Menschheit auf das Kommen Christi, während der die menschliche Freiheit ständig auf die Probe gestellt wird durch den Willen Gottes.
Der Gehorsam Noachs, das Opfer Abrahams, der Auszug des Gottesvolkes unter Moses Führung durch die Wüste, das Mosaische Gesetz, die Propheten, eine Folge göttlicher Auserwählungen, wobei die Menschen bald der Verheißung treu bleiben, bald schwach werden und Strafen erleiden (Gefangenschaft, Zerstörung des ersten Tempels), die gesamte heilige Tradition der Juden ist die Geschichte einer langsamen und mühseligen Beförderung der gefallenen Menschheit zur „Fülle der Zeiten“, wenn der Engel entsendet werden wird, um der auserwählten Jungfrau Maria die Menschwerdung Gottes zu verkündigen und von ihren Lippen die menschliche Einwilligung zu erhalten, auf dass sich der göttliche Heilsplan erfülle.
Der „Name der Muttergottes enthält die gesamte Geschichte des göttlichen Wirkens in dieser Welt“
Hinzu kommen die Worte des Johannes Damaszenus. Dieser sagt, der „Name der Muttergottes enthält die gesamte Geschichte des göttlichen Wirkens in dieser Welt“ (De fide ort. III). Dieses göttliche Wirken, das die menschlichen Bedingungen schafft für die Menschwerdung des Gottessohnes, ist nicht einseitiger Natur: es ist kein göttlicher Wille, der die Geschichte der Menschheit mit einem Schlag auslöscht. In seinem Heilswirken passt sich die Weisheit Gottes den menschlichen Willensschwankungen und Antworten auf den göttlichen Ruf an. Auf diese Weise baut sie über die Generationen der Gerechten des Alten Testaments ihr Haus, das vollkommen reine Wesen der Jungfrau Maria, durch die das Wort Gottes uns ebenbürtig werden wird. Die Antwort Marias auf die Verkündigung durch den Erzengel: „Ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du es gesagt hast“ (Lk 1,38), löst die Tragödie der gefallenen Menschheit. Alles, was Gott von der menschlichen Freiheit nach dem Sündenfall forderte ist erfüllt. Nun kann das Werk der Erlösung, das einzig das menschgewordene Wort vollbringen kann, stattfinden.
Maria, der Höhepunkt der Heiligkeit des Alten Testaments, aber noch mehr...
[...] Wie die anderen Menschen, wie Johannes der Täufer, dessen Zeugung und Geburt die Kirche ebenfalls begeht, ist die Jungfrau Maria unter dem Gesetz der Erbsünde geboren und trägt mit allen dieselbe gemeinsame Verantwortung am Sündenfall. Doch konnte die Sünde in ihr nie Aktualität erlangen – die sündhafte Vererbung des Sündenfalls hatte keine Macht über ihren rechten Willen. Sie stellt den Höhepunkt der Heiligkeit dar, die je vor Christus erlangt werden konnte, unter den Bedingungen des Alten Testaments und durch jemanden vom Stamme Adams.
Ohne Sünde lebte sie unter der universellen Herrschaft der Sünde, bar jeder Verführung in der vom Fürsten dieser Welt geknechteten Menschheit. Sie war nicht über die menschliche Geschichte gestellt, um dem besonderen Vorhaben Gottes zu dienen, sondern verwirklichte ihre einzigartige Berufung in der Verkettung der Geschichte, im gemeinsamen Schicksal der auf ihr Heil wartenden Menschen. Und dennoch – wenn wir in der Person der Muttergottes den Gipfel der Heiligkeit des Alten Testaments sehen, so ist dies noch nicht die Grenze ihrer eigenen Heiligkeit, denn sie übersteigt auch die höchsten Gipfel des Neuen Bundes, indem sie die größte Heiligkeit verwirklicht, die die Kirche erlangen kann.
Auszüge aus: „A l’image et à la ressemblance de Dieu“ V. Lossky [„Nach dem Abbild Gottes“, n. übers.], Paris 1967
Vladimir Lossky et l'équipe de MDN